Das Holocaust-Mahnmal in Berlin: Ein Kunstwerk?
Ein eisiger Wind fegt durch die Straßen von Berlin. Einige Vorträge meiner MitschülerInnen haben wir schon gehört, viele stehen noch an. Unsere Beine werden immer schwerer, die Motivation sinkt, die Gesichter wie vereist. Das einzige, was mich nicht davon abhält in ein warmes Café zu gehen, ist mein bevorstehender Vortrag zum Holocaust-Mahnmal in Berlin, welches man seit der Eröffnung 2005 besichtigten kann.
Wir befinden uns erst seit ein paar Stunden in Berlin. Nachdem wir mit dem gesamten 10. Jahrgang der Ricarda-Huch-Schule Hannover mit dem Zug unsere Abschlussfahrt begonnen hatten. Die anfängliche Aufregung ist schnell verschwunden nachdem wir das kalte, nasse Berlin betreten haben. Nach dem Vortrag meiner MitschülerInnen zum Brandenburger Tor ruft mein Lehrer: „Aufgrund der etwas schlechteren Wetterlage brechen wir die Tour ab. Das letzte Referat wird das der Gruppe Holocaust-Mahnmal sein. Auf gehts!“ Etwas schlechteres Wetter ist gut. Es fisselt nicht. Es regnet nicht. Es ist ein Sturmregen. Der Wind peitscht um unsere Ohren und lässt uns die Regenschirme wieder schließen.
Komplett durchnässt und von oben bis unten erfroren kommen wir schließlich am Holocaust Mahnmal an. Zunächst haben wir ein paar Minuten Zeit um uns das Mahnmal genauer anzugucken.
Ich stehe etwas außerhalb und betrachte das riesige Feld mit den unzähligen, unterschiedlich hohen Betonstelen. Drum herum viel Lärm. Volle Straßen, hupende Autos. Touristengruppen in Regenklamotten gekleidet. Zwischen all dem Großstadttrubel bildet sich eine Art Ruheort. Ganz still, massiv und ehrfürchtig ragen die Steinstelen empor. Beim bloßen Anblick dieser Architektur möchte man es näher erkunden. Durch jeden Gang gehen. Schauen, wo er mündet. Den Mittelpunkt finden. Den Punkt, an dem sich alles sammelt. An dem die Betonstelen am höchsten sind und einen so klein wirken lassen. Ich laufe rein. Bei jedem Schritt sinkt man tiefer ins Geschehen. Man sinkt tiefer in ein Labyrinth aus 2711 quaderförmigen Steinen. Durch meine Recherche im Voraus wurde mir bereits klar, was sich die Architekten Peter Eisenmann und Richard Serra bei der Architektur gedacht haben. Doch erfährt und erlebt man es selbst, so ist es viel intensiver als erwartet.
Dieses Mahnmal steht für die über 6 Millionen ermordeten Juden Europas zur Zeit des Nationalsozialismus. Es wurde erbaut und gestaltet, um einen, wie Peter Eisenmann formulierte „place of no meaning“ zu erschaffen. "Place of no meaning" - interessant. Einen Platz ohne Bedeutung also. Dieser Platz hat doch eine unfassbare Bedeutung in Bezug auf Deutschland, auf Europa und die ermordeten Juden. Was meint der New Yorker Architekt damit also?
Eisenmann erschuf ein Mahnmal, welches sich von den anderen Mahnmälern und Gedenkstätten abhebt. Eines, welches einem ungewöhnlich erscheint. Eines, womit viele zunächst nichts anzufangen wissen. Womit man sich auseinander setzten muss. Je tiefer man also in das Mahnmal eindringt, desto mehr Gedanken schwirren in meinem Kopf umher. Die ganzen Daten, all die Informationen ergeben einen Sinn und bestätigen sich. Mehr als das, ich visualisiere sie direkt vor meinen Augen. Die Steine sind mit einer dünnen Schicht aus Moos bezogen. Auf manchen Stelen findet man Blumen, wie auf einem Grab. Die Gruppe, die das Mahnmal entwickelt hat, hat dem Betrachter einen großen Interpretationsraum gegeben. Keine genaue Interpretation wurde dem vorgelegt. Es gibt lediglich Deutungsversuche und Ansätze. So stehen die Betonstelen für den Förderkreis um die Publizisten und Anregerin des Mahnmals Lea Rosh für sogenannte Kenotaphe, also Scheingräber. Dies scheint ihnen plausibel, vor allem da viele Juden kein eigenes Grab bekommen haben.
Mich erinnert das Stelenfeld an einen Friedhof. Zunächst erinnert er an einen normalen Friedhof, erzeugt durch die sargähnlichen Steine am Anfang. Doch je höher die Steine werden, desto mehr wird deutlich, dass es eben keine normalen Gräber sind, da die Juden nicht unter normalen Umständen gestorben sind. Sie sind unter schlimmen und unverzeihlichen Taten und Akten gestorben. Betrachtet man das Feld von der Vogelperspektive aus, so scheint es, als bewege sich das Feld wellenartig. Ich assoziiere daraus, dass es sich um einen Friedhof handelt voller Toter, die keine Ruhe finden können. Lea Rosh, welche heute 86 Jahre alt ist, setzte sich für den Bau eines Mahnmals ein, woraufhin ein Förderkreis gebildet wurde um den Vorschlag umzusetzen und weiter zu bearbeiten. Seit 1988 setzte sie sich 17 Jahre lang für das Mahnmal ein. In diesem Förderkreis ist sie heutzutage immer noch Vorsitzende.
Die Fernsehjournalisten und Publizisten nahm die Idee des Historikers Prof. Dr. Eberhard Jäckel auf, den ermorden Juden Europas in Berlin ein Denkmal zu errichten. In einem Interview in dem Video-Podcast #NIEMALSVERSTUMMEN sagte sie: „Wir wollten die Opfer ehren [...]“. Die Juden, welche „unehrenhaft aus ihrem ganzen Volksgemeinschaften aus gesondert, deportiert, ermordet wurden“ sollten geehrt werden.
Daraufhin eröffnete die Berliner Senatsverwaltung 1995 einen künstlerischen Wettbewerb, bei dem insgesamt 528 Arbeiten eingereicht wurden. Für den ersten Platz qualifizierten sich gleich zwei Künstler. Doch beide Entwürfe sammelten nach und nach Kritik ein, bis der damals amtierende Bundeskanzler Helmut Kohl der Diskussion ein Ende setzte.
Zwei Jahre Später, nach den Bundestagswahlen wurde ein zweiter Wettbewerb eröffnet, bei dem insgesamt 25 KünstlerInnen geladen wurden. Darunter die neun erstplatzierten des ersten Wettbewerbs und 16 internationale TeilnehmerInnen (unter anderem auch vom ersten Wettbewerb). Unter ihnen auch der New Yorker Architekt Peter Eisenmann in Zusammenarbeit mit Richard Serra, deren Entwurf man heute als das Holocaust Mahnmal sehen kann. Helmut Kohl ernannte im Januar 1989 deren Entwurf zu seinem Favoriten. Kurze Zeit später stieg Serra aus dem Projekt aus, auf Grund von „persönlichen und professionellen Gründen“. Es wird vermutet, dass es an der Kritik lag, bzw. der Debatte über den Entwurf. So nahm Peter Eisenmann allein am Wettbewerb teil.
An dessen Entwurf musste viel verändert werden, aufgrund der zunehmenden Kritik. Die vorher 7m hohen Stelen sind nun nur noch 4m hoch, statt 4000 Stelen nur noch ca. 2700, die Dimensionen wurden geändert. Kritiker sagen, das Mahnmal habe durch „die vielen Änderungen an Radikalität verloren“. Statt hohen massiven Steinstelen, die nur zu umgehen sind wenn man die Straßenseite wechselt, wurden durch sanft eingebettete zunächst flache Stelen ersetzt, sodass sich das Mahnmal in die Berliner Umgebung anpasst. „Meiner Meinung nach passt sich das Stelenfeld der Berliner Umgebung viel zu sehr an“ so ein Mitschüler.
Bevor das Mahnmal schließlich am 12. Mai 2005 eröffnet wurde, gab es viele Diskussionen und Debatten, die sich sowohl durch die Politik als auch die Gesellschaft zogen. Es wurde über den Standort, den Bau, die Architektur, das Ziel und beispielsweise die negativen Konsequenzen diskutiert. Doch genau das finde ich so interessant an dem Ganzen. Die Diskussion hat das Mahnmal so sehr in den Vordergrund gerückt, sodass es genau die richtige Aufmerksamkeit bekam. Die Gesellschaft, die Politik, jeder sprach und diskutierte darüber. Heutzutage kann man den Entwurf von Peter Eisenmann südlich des Brandenburger Tors sehen.
Auf einer Fläche von 19.000 Quadratmetern stehen 2711 quaderförmige Betonstelen, die in geringen Abständen zu einander im größer werden. Um das Feld herum ordnen sich tiefe Betonquader an, welche an Särge erinnern. Sie bilden einen Rahmen um die restlichen Stelen.
Je tiefer man in den Bau eindringt, desto höher wird dieser. Der Boden ist leicht geneigt. Steht man am Anfang eines Ganges so sieht dieser nahe zu wellenförmig aus.
Auf mich macht das Zusammenspiel des Bodens und den immer größer werdenden massiven Steinstelen einen verunsichernden Eindruck. Es wirkt etwas beklemmend. Ein Labyrinth aus Steinen. Durch die geringen Abstände von einer Stele zur nächsten ermöglicht das Mahnmal keine Gruppenbesichtigung. Jeder Besucher erlebt das Mahnmal für sich. Dies war auch eine der Intentionen Eisenmanns. Der Architekt erklärt in seinem ausformulierten Konzept, die Intention des Entwurfes: „In unserem Monument/Denkmal gibt es kein Ziel, kein Ende, keinen Weg sich hinein- oder hinauszufahren. Die Zeit der Erfahrung die das Individuum, den Besucher, gewährt kein völliges Verstehen - denn ein allumfassendes Verstehen ist nicht möglich. [...] Es (gibt) keine Nostalgie, keine Erinnerung, kein Gedenken der Vergangenheit, es gibt lediglich eine lebendige Erinnerung, nämlich die der individuellen Erfahrungen - des Erlebnis des Denkmals/Monuments. Denn heutzutage können wir die Vergangenheit nur durch eine Manifestation in der Gegenwart kennen und verstehen“. Diesen Interpretationsraum, den der Architekt damit gegeben hat, sehe ich als äußert sinnvoll an. Die Individuen, die das Mahnmal besuchen unterscheiden sich enorm voneinander. Passanten. Touristen. Besucher. Opfer. Betroffene. Familienangehörige. Menschen, die ein Leben lang mit dem Holocaust verbunden sein werden. Dass das Mahnmal also keiner genauen Bedeutung zugeordnet ist, wirkt sich positiv darauf aus, da man ganz persönliche, ganz eigene Sachen damit verbinden kann.
Eisenmann erwähnte in seinem Konzept den Punkt „Verstehen“. Ein allumfassendes Verstehen sei nicht möglich sagte er. Und genau zu diesem Punkt hagelte es ebenfalls Kritik. Viele haben befürchtet durch die abstrakte Gestaltung und den großen Interpretationsraum können wichtige Informationen nicht geboten werden. Es sollte mehr aufgeklärt und das Mahnmal zunehmend konkretisiert werden. Aus diesem Grund befindet sich ein sogenannter „Ort der Information“ direkt unter dem Mahnmal der ermordeten Juden Europas. Dieser wurde später vom Architekten ergänzt und unterirdisch südlich des Denkmals auf einer Fläche von 800 Quadratmetern angelegt. Viele Räume sind ohne Tageslicht, ein paar mit. Insgesamt befinden sich dort unten 4 Räume, welche gewisse Themenstränge behandeln. Der Raum der Dimension, der Familien, der Namen und der Orte.
Der erste Raum, der Raum der Dimensionen ist nicht lichtdurchflutet. Er besteht aus grauen, glatten Wänden und hell leuchtenden Informationstafeln, auf denen man Briefe von Verfolgten oder Tagebucheinträge lesen kann. An den Wänden sieht man die europäische Dimension des Holocaust, wobei die Opferzahlen aller Länder unter nationalsozialistischer Herrschaft dargestellt wird.
Im zweiten Raum, dem Raum der Familien werden die Lebenswelten 15 jüdischer Familien dargestellt. Es werden vor allem die drei Zeitetappen beleuchtet: Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Schlicht: das Leben vor, während und nach der Verfolgung. Dieser Raum ist ebenso kalt, glatt und spärlich beleuchtet gestaltet. Die Atmosphäre zieht einen viel tiefer in die Geschichte und das Geschehen hinein.
Der Raum der Namen besteht aus dunkelgrauen Wänden und Sitzbänke in der Mitte des Raumes. An den vier Wänden werden Namen, sowie Kurzbiografien projiziert. Auf Bildmaterial wurde komplett verzichtet. Insgesamt verfügt der Raum über 3,2 Millionen Namen zu denen 3.806 Namen hinzugefügt werden konnten. 5.100 Namen werden recherchiert und für die Tonaufnahmen vorbereitet. Namen zu hören, die einem Kind gehören, jemandem in dem eigenen Alter ist unfassbar erschütternd. Es bringt mich viel näher an die Erlebnisse und die Geschichte heran. Tagebucheinträge zu lesen, die Menschen vor nicht all zu langer Zeit verfasst haben erdrücken einen. Viele wussten, dass sie bald sterben würden.
Der letzte Raum ist der sogenannte „Raum der Orte“. Der Ort der Information in Bezug auf das Gedenken an all die ermordeten Juden Europas informiert selbstverständlich auch über die Ausdehnung auf ganz Europa, welche hier in unterschiedlichen Film- und Bildmaterialien dargestellt werden.
„Für mich sieht das eher aus wie ein Kunstwerk und kein Mahnmal“ - Wie wirkt das Mahnmal auf junge Leute?
Das Ziel der Architektur ist es, den Betrachter zum Nachdenken anzuregen. Es soll also eine bestimmte Wirkung auf die vielen Besucher haben. Der ganze 10. Jahrgang meiner Schule besuchte bei der „Touri-Fahrt durch Berlin“, so wie wir es nannten, genau wie wir ebenfalls das Holocaust Mahnmal. So zeigten sich mir in unterschiedlichen Gesprächen mit meinen Mitschülern ganz unterschiedliche Ansichten und Interpretationen.
Zunächst spreche ich mit Samuel Malec aus meiner Parallelklasse. Für ihn war es zwar erstmal sehr verwunderlich, dass da auf einmal Steine sind vor allem neben dem Brandenburger Tor, doch durch ein paar Berichte in den Medien ist ihm die Geschichte hinter dem Mahnmal bewusst und er konnte damit etwas anfangen. Auf die Frage, wie das Mahnmal auf ihn gewirkt hat, denkt er nicht lange nach und erzählt: „Obwohl die Sonne schien war es dort unten grau, kalt und düster. [...] Die Steine waren so viel größer als man selbst und das gab mit ein Gefühl von Ehrfurcht“.
Das Mahnmal schafft ein richtiges Gefühl in Bezug auf die Zeit, die die Juden erleben mussten. So stehen die Steine für ihn nicht für Särge oder Kenotaphe, wie es andere interpretiert haben, sondern eher als Gedenktafeln, deren glatten graue Wände an die schlimme, kalte, graue und karge Zeit der Juden erinnern. Für Samuel steht nicht ein Stein für einen Juden sondern ein Stein für ganz viele Juden. Und je nach Größe sind dann unterschiedlich viele gemeint. Und diese Interpretation in Beziehung zu der Gesamtgröße des Feldes veranschaulicht auf eine schlimme Weise nochmal die große Anzahl der ermordeten Juden, erzählt er nahe zu poetisch.
Wir schweigen einen Moment, bevor er weiter von den Reaktionen der Anderen erzählt.
Mitschüler aus den Parallelklassen empfanden und erlebten das Denkmal anders. Die einen scheinen sich gar nicht dafür zu interessieren. Sie spielten fangen in den Gängen und rannten lustig lachend umher. „Das habe ich als falsch und respektlos angesehen und tue es immer noch [...]“ sagt Samuel.
Andere respektierten das Mahnmal zwar aber verstanden es nicht. „Für mich sah das eher aus wie ein Kunstwerk oder so“. Ein Teil meines Jahrganges wusste mir dem Stelenfeld nicht viel anzufangen. Für sie machte es den Eindruck als sei es dort um eine künstlerische Message zu verteilen und nicht um ermordete Juden zu gedenken. „Meiner Meinung nach entspricht das absolut nicht meinen Vorstellungen eines Denkmals“ erzählt mir ein Mitschüler.
So geht es nicht nur den SchülerInnen meines Jahrgangs. Viele Touristen und Besucher wissen das Mahnmal ebenso wenig zu schätzen. Lea Rosh erzählt, sie sehe oft Menschen, die auf den Steinen stehen, oder darauf sitzen. Vor allem Touristen, doch auch viele Influencer. Manche Turnen auf den Steinen, springen glücklich in die Luft, machen Selfies und posten diese. Für sie ist es nur eine der vielen Sehenswürdigkeiten in Berlin.
Viele MitschülerInnen äußerten deshalb den Wunsch, es solle durch Schilder oder ähnlichem besser gekennzeichnet werden, sodass man auch als außenstehende Person weiß, worum es sich handelt. Doch genau das wollte Peter Eisenmann erreichen mit seinem Entwurf. Man kann nur durch die Optik des Mahnmals nicht die Bedeutung erkennen sondern muss sich damit auseinandersetzen. Und dieses Auseinandersetzten und Informieren ist das Ziel, der Sinn und der der Grund, weshalb Peter Eisenmann sich für dieses Mahnmal entschieden hatte.
Im strömenden Regen und Sturm stehen wir nun vor dem Holocaust Mahnmal. Meine Gruppe und ich beginnen mit unserem Vortrag. Der Wind peitscht um unsere Ohren und wir müssen laut rufen, damit man uns verstehen kann. In den Gesichtern der Anderen sehe ich Trauer, Ungläubigkeit, Mitgefühl, als sie all die schlimmen Hintergründe dieses Mahnmals noch einmal vor Augen geführt bekommen. Manche bereuen auf den Stelen geklettert zu sein, andere wiederum schauen gelangweilt umher. Wir beenden den Vortag, und so gehen wir durch den eisigen Wind, des kalten und nassen Berlins, mit gemischten Gefühlen und Emotionen zurück zur U-Bahn Station.